Es war ein Mittwochnachmittag, ich saß im Bus direkt hinter Martin und war überglücklich, dass es nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder einmal geklappt hatte, mit ihm mitzufahren. In den letzten Wochen hatte er nämlich immer die Schulbustour fahren müssen, und da ein paar Kinder aus seinem Wohnort mitfuhren, war es einfach zu gefährlich gewesen, mich dazuzugesellen. Heute hatte Martin glücklicherweise die Nürdlinger Tour, die weniger riskant für uns war. Auf seinen Vorschlag hin war ich in einer kleinen Ortschaft zugestiegen, in der sich wohl eher niemand aus Martins Familien- und Bekanntenkreis aufhalten würde. Da wir wegen seiner Frau noch immer äußerst vorsichtig sein mussten, suchten wir nach Möglichkeiten, unsere Treffen so zu gestalten, dass sie uns hoffentlich nicht auf die Schliche kommen konnte.
Mir ging es richtig gut, denn am Vortag hatte ich meine Zwischenprüfung geschrieben, die meinem Gefühl nach recht gut gelaufen war. Die Fragen waren nicht übermäßig schwer gewesen, und ich hatte verhältnismäßig viel gewusst. Unsere Klassenlehrerin hatte uns vorher schon erklärt, dass die Zahnärztekammer mit dem Test nur überprüfen wollte, ob man nach der Halbzeit auch wirklich das wusste, was einem während dieser Zeit beigebracht werden sollte. Man konnte zwar nicht durchfallen, doch war sie notwendig, um überhaupt an der Abschlussprüfung teilnehmen zu dürfen. Die Ergebnisse würden wir allerdings erst Ende Juni mitgeteilt bekommen.
Ich genoss es, so nahe bei Martin zu sitzen und mit ihm zu plaudern und herumzualbern, und mir war es in meiner guten Laune völlig egal, was die anderen Fahrgäste von uns dachten. Sollten sie doch wissen, dass wir uns näher als nur flüchtig kannten. Martin war ein sehr aufgeschlossener Mensch. Er war zu allen Fahrgästen freundlich und hatte für jeden ein gefälliges Wort. Mir fiel auf, wie sehr es ihm Spaß machte, unter Leuten zu sein. Wenn er etwas bestimmt nicht war, dann schüchtern, und ich bewunderte ihn dafür.
Eine junge Frau betrat den Bus, und ich dachte mir nichts dabei, als Martin sie hocherfreut begrüßte: »Das ist aber schön, dich wieder einmal zu sehen, Tatjana«, und ihr sogar die Hand reichte. Sie war gleichfalls sichtlich entzückt, denn sie lachte ihn freudestrahlend an. Als das Händeschütteln für meinen Geschmack eindeutig zu lange und vertraut verlief, wurde ich misstrauisch. Ein bohrendes Gefühl der Eifersucht stieg in mir auf. Krampfhaft versuchte ich, gelassen zu bleiben. »Hast du Feierabend? Arbeitest du denn noch in der Bäckerei?«, erkundigte sich Martin, und als diese Tatjana zur Antwort nickte, meinte er mit einem, wie ich fand, äußerst umschmeichelnden Unterton: »Das nächste Mal kannst du mir ein Stück Kuchen mitbringen. Ich liebe süße Sachen.« Wie hatte er das gemeint? So, wie er das mit den süßen Sachen gesagt hatte, klang es für mich jedenfalls ziemlich zweideutig. »Gut, mache ich«, antwortete sie und lachte Martin mit ihren weißen Zähnen kokett an. Ich kochte vor Wut. »Gibst du mir dann auch etwas von deinem Kuchen ab, Martin?«, fragte sie ihn in einem nicht weniger anzüglichen Tonfall. Nun reichte es aber. Ich wollte der unverschämten Person, die sich hier an meinen Freund heranmachte, klarmachen, dass ich nicht zufällig auf diesem Platz hinter ihm saß, und raunte Martin laut genug, dass sie es hören konnte, zu: »Schatz, was machen wir denn heute noch zusammen?« Es wirkte. Das Lächeln der Tussi erstarb, und entgeistert musterte sie mich von oben bis unten. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort den Gang nach hinten und setzte sich in irgendeinen Sitz. Während der Fahrt bemerkte ich, dass Martin immer wieder in den Rückspiegel blickte. Genauso, wie er es damals bei mir getan hatte. Was sollte das? Wie konnte er mich nur so demütigen? Ich war außer mir und wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen. Doch irgendwie schaffte ich es, mich zusammenzunehmen. Schließlich wollte ich mich nicht vor all den Fahrgästen, die noch im Bus saßen, zum Gespött machen, vor allem nicht vor dieser blonden Ziege. So fuhren wir eine Zeit lang, und ich sagte kein Wort. Wenn Martin mich ansprach, tat ich so, als hätte ich ihn nicht gehört. Wir fuhren die Bushaltestelle in Nürdlingen an, und meine Nebenbuhlerin Tatjana kam nach vorne, um auszusteigen. Er holte lächelnd all seinen Charme hervor, fragte nach, was sie diesen Abend denn noch vorhätte, doch erntete er von ihr nur Verachtung, als sie an ihm wortlos vorbei und nach draußen ging. Und dann stand Martin tatsächlich auf und eilte ihr hinterher. Ich war fassungslos und beobachtete mit brennender Wut, wie er nicht weit vom Bus mit ihr sprach. Zwar verstand ich kein Wort, doch für mich sah es ganz so aus, als würde er sich bei ihr einschmeicheln wollen. Am Ende des Gesprächs legte er vertrauensselig die Hand auf ihren linken Oberarm, verabschiedete sich und kam zurück zum Bus. Meine Rivalin schien beruhigt zu sein, hatte ihm zum Schluss noch ein hingebungsvolles Lächeln zugeworfen. Für mich war glasklar, dass Martin ein falsches Spiel mit mir spielte. Die ganze Zeit hatte ich mich bemüht, sein Verhalten zu verharmlosen, mir eine einleuchtende Erklärung für das vertraute Miteinander der beiden einzureden, was mir auch fast gelungen wäre, doch nun war das Maß voll. Als Martin wieder in den Bus kam, lachte er mich an, als wäre nichts gewesen. Voller Abscheu starrte ich ihm entgegen. Wenn mein Blick hätte töten können, dann wäre er auf der Stelle umgefallen. Leicht verunsichert und ohne ein Wort zu sagen, nahm er wieder hinter dem Steuer Platz und fuhr weiter. Ich zitterte vor ohnmächtiger Wut. »Also Schweine gibt es«, begann ich im bemüht lockeren Plauderton zu Martin zu sprechen. »Es gibt doch tatsächlich Menschen, die solche Arschlöcher sind, dass man sie vor der Öffentlichkeit wegsperren müsste. Ich kenne da jemanden, der ist so ein Lügner. Der wird nicht einmal rot dabei, wenn er das Blaue vom Himmel lügt. Wie gerne würde ich diesem Typen ein paar aufs Maul hauen.« Martin reagierte nicht großartig, gab nur ein ›Aha‹ von sich. Offenbar war ihm bewusst, dass es hier vor den Fahrgästen zu einer wirklich blamablen Szene kommen konnte, wenn er nun ein falsches Wort sagte. Als er wenig später stark bremsen musste, weil ihm ein Autofahrer die Vorfahrt genommen hatte, nahm ich sofort die Gelegenheit wahr, um ihm damit zuzusetzen, denn ich wusste ja, wie empfindlich er war, wenn es um sein Fahrkönnen ging. »Und manche sind sogar zu blöd zum Autofahren. Bremsen wie die Idioten. Denen sollte man den Führerschein wegnehmen. Wahrscheinlich sind die sogar zu doof zum Dreiradfahren.« Martin wusste natürlich, dass er damit gemeint war, doch er hütete sich, etwas zu erwidern. Erst als meine Stimme immer lauter und hysterischer wurde, brach er sein Schweigen und bat mich mit gedämpfter Stimme: »Lisa. Schatz. Hör doch bitte auf.« »Ich hör auf, wann es mir passt«, erwiderte ich giftig, hielt dann aber doch den Mund. Im Moment konnten wir uns sowieso nicht vernünftig streiten. Also schwieg ich den Rest der Fahrt über. Auch Martin sagte nichts. Ich stieg an der Haltestelle aus, an der ich zugestiegen war, und Martin bat mich, hier auf ihn zu warten, bis er die letzten Fahrgäste an ihr Ziel und den Bus in die Firma gebracht hatte. Zuerst wollte ich erwidern, dass ich dies garantiert nicht tun würde, doch als ich seinen flehenden Blick sah, erklärte ich mich widerwillig bereit.
Unglücklich setzte ich mich in mein Auto und zwang mich dazu, Ruhe zu bewahren. Ich war vollkommen durcheinander, fühlte mich betrogen und belogen, und das tat höllisch weh. Plötzlich kam mir in den Sinn, dass sich Martins Frau wohl nicht anders fühlen musste. Seit inzwischen mehr als einem Jahr wurde sie von ihrem Ehemann an der Nase herumgeführt, das war die bittere Realität. Vermutlich hatte es auch schon vor mir Frauen gegeben, mit denen er sie hintergangen hatte, doch wenn ich ehrlich war, wollte ich das gar nicht so genau wissen. Welche Frau träumte schließlich nicht gerne davon, die einzige, große Liebe eines Mannes zu sein. Die Furcht, dass Martin mich ebenso hintergehen könnte wie seine Frau, schnürte mir die Kehle zu. Vor meinem geistigen Auge tauchten wieder die Bilder auf, wie überaus herzlich und vertraut sich Martin dieser Tatjana gegenüber verhalten hatte und wie sie darauf angesprungen war. Erneut überkam mich ein Schwall Eifersucht. Dass er sie nicht auch noch abgeknutscht hatte, war schon fast verwunderlich. Aber klar, man musste ja vorsichtig sein, schließlich befand ich mich in der Nähe. Nervös trommelte ich auf dem Lenkrad herum und wäre am liebsten aus der Haut gefahren. Als ich mich allmählich wieder beruhigt hatte, kam Martin mit seinem Granada angerauscht. Ich blieb im Auto sitzen und starrte grimmig vor mich hin. Er nahm auf meinem Beifahrersitz Platz und wollte doch tatsächlich wissen: »Warum bist du denn so sauer?« Ich schluckte. Wer von uns beiden war hier bescheuert? »Kannst du dir das nicht denken?«, giftete ich ihn aufgebracht an. »Etwa wegen Tatjana?« »Du bist ja ein Schnellmerker. Hast du denn keine Verabredung mit deiner Tatjana? Musst deine Zeit nicht mit mir hier vertrödeln.« Der Zynismus und Zorn in meiner Stimme war unüberhörbar. Martin griff nach meiner Hand, doch ich zog sie angeekelt fort. »Lisa, Süße. Du brauchst doch nicht eifersüchtig auf Tatjana zu sein. Seit zwei Jahren fährt sie diese Buslinie mit. Wir waren ein- oder zweimal zusammen Kaffeetrinken, aber das war alles harmlos, glaub mir. Wir sind nur gute Bekannte.« So richtig glauben konnte und wollte ich ihm nicht, weshalb ich spitzfindig nachhakte: »Ach so? Und warum war sie dann so sauer, als sie merkte, dass ich mehr als nur irgendein Fahrgast bin? Ich bilde mir das doch nicht ein.« »Ja, es stimmt, dass sie etwas komisch reagiert hat. Nun ja. Anscheinend hatte sie sich Hoffnungen gemacht, dass aus ihr und mir etwas werden könnte. Ich weiß auch nicht, wie sie darauf kommt. Aber ich habe ihr heute klipp und klar gesagt, dass du meine Freundin bist und sie keine Chance bei mir hat.« Hatte er ihr das wirklich gesagt, als sie sich draußen am Bus unterhalten hatten? Ich wollte es so gerne glauben, doch ich konnte mein Misstrauen nicht schnell mal so abschütteln. »Ich bin müde. Außerdem muss ich erst einmal darüber nachdenken«, teilte ich Martin mit schleppender Stimme mit. Ich fühlte mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Die emotionale Aufregung hatte mir jede Kraft geraubt, und ich fühlte mich nur noch deprimiert und ausgelaugt.
Er war enttäuscht, denn er hatte sich den herbeigesehnten Tag mit Lisa wirklich anders vorgestellt, auch wenn er ihr Verhalten ein klein wenig verstehen konnte. Schließlich war ihre Eifersucht nicht ganz unbegründet. Tatjana war wirklich eine seiner Gespielinnen gewesen, und ja, er hatte Lisa mit ihr betrogen. Das Ganze war völlig ungeplant passiert, kurz nachdem sie ihm offenbart hatte, dass sie vielleicht schwanger war. Natürlich hatte er die Sorge darüber verdrängt, sich sogar gewisse Glücksgefühle eingeredet, doch in Wahrheit hatte ihn die Möglichkeit einer erneuten Vaterschaft in Angst und Schrecken versetzt. An jenem Freitag, zwei Tage nach Lisas Geständnis, hatte er die Spätlinie gefahren, und Tatjana war nach ihrem Feierabend zugestiegen. Er war an diesem Tag sehr frustriert gewesen, brauchte dringend ein wenig Aufmunterung, die sie ihm bei ihrer Verabredung am Abend nur zu gerne bescherte. Die Fünfundzwanzigjährige war aber auch eine Gute. Sie stellte keine Forderungen, war einfach nur glücklich darüber, wenn sie von ihm Aufmerksamkeit bekam. Und die gab er ihr doch nur zu gerne. Er hörte ihr immer geduldig zu, wenn sie ihm ihr Herz ausschüttete. Im Grunde war sie ja ein armes Ding. Vor zwei Jahren hatte sie eine schlimme Trennung von ihrem Verlobten durchmachen müssen, mit dem sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr zusammen gewesen war. Dann stellte sich zufällig heraus, dass der sie ein ganzes Jahr lang mit ihrer besten Freundin betrogen hatte. Er wollte den Kerl aber nicht verurteilen, schließlich nahm er es selber auch nicht so genau mit der Treue. Warum sollte man es ihm und seinen Geschlechtsgenossen verübeln, schließlich taten sie doch nur, was die Evolution ihnen in die Wiege gelegt hatte, nämlich ihre Gene zu verbreiten, auch wenn sie damit hoffentlich in den seltensten Fällen ungewollte Kinder in die Welt setzten. In Afrika gab es einige Völker, bei denen es absolut normal war, wenn der Mann mehrere Frauen hatte, und im Islam war dies teilweise ebenso möglich. Auch in der Tierwelt gab es nicht allzu viele Arten, die monogam lebten. Ihm fielen nur der Wolf und der Storch ein.
Als er Tatjana damals vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet war, steckte sie inmitten dieser Lebenskrise und warf sich ihm regelrecht an den Hals. Er wollte keine engere Bindung mit ihr, hatte ihr auch noch nie irgendwelche Hoffnungen gemacht, zumindest nicht bewusst. Ein bisschen war es schon mies von ihm, sie so auszunutzen, doch irgendwie hatte sie ihm immer wieder das Gefühl gegeben, dass es völlig in Ordnung war, wenn er seine Bedürfnisse bei ihr auslebte. Außerdem war er sich sicher, dass sie ebenfalls Vergnügen an ihren Treffen hatte. Zwischen ihnen war es nie verbindlich geworden. Wenn man sich traf, dann war das gut, wenn nicht, dann eben nicht. Dass sie auf Lisa eifersüchtig reagieren würde, hätte er sich nicht im Traum einfallen lassen. Tatjana wusste doch, dass er verheiratet war und es keine Chance für eine ernsthafte Beziehung zwischen ihnen gab. Er hatte einer Frau nie verheimlicht, dass er ehelich gebunden war. Doch offensichtlich sah Tatjana in Lisa eine größere Bedrohung als in seiner Ehefrau. Verstehe einer die Frauenzimmer. Mit viel Überredungskunst hatte er Tatjana beschwichtigen können, denn er konnte es nicht ertragen, sie so enttäuscht zu sehen. Wenn er ehrlich war, nicht aus uneigennützigen Gründen, denn eigentlich wollte er sie sich warmhalten. Man konnte schließlich nie wissen, was das Leben noch so brachte. Zweifelsohne liebte er Lisa und hatte auch wirklich ein schlechtes Gewissen gehabt, als er an jenem Freitag von Tatjana weggefahren war. Doch er wäre nicht er gewesen, wenn er solche schlechten Gefühle nicht hätte abschütteln können. Schließlich beschwerten Gewissensbisse nur den Alltag. Wenn es Probleme und Streitigkeiten mit seinen Frauen gab, dann konnte er das nicht gut ertragen, weshalb er ihnen möglichst aus dem Weg ging. Der Vorfall mit Edith vor vier Monaten hatte ihn sehr fertig gemacht. Und jetzt der Ärger mit Lisa, grauenhaft. Martin schüttelte genervt den Kopf. Manchmal war es mit den Weibern wirklich kaum auszuhalten. Es ging nicht mit, aber auch nicht ohne sie. Mann hatte es zweifellos nicht leicht im Leben.